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 Nach einem aufsatz 
 von Villém Flussér 
Früher war die wirklichkeit hart, man stiess sich dagegen und biss sich daran die zähne aus. Heute ist sie wattig geworden:
 Ein meer von 
 möglichkeiten 
Wir schwimmen in einem meer von möglichkeiten. Jede davon ist vom drang erfüllt, immer wahrscheinlicher zu werden, immer näher an den grenzwert zu gelangen, den wir 'wirklichkeit' nennen. Dieser drang heisst zukunft. Wirklichkeit ist nie erreichbar, weil jede sich gerade realisierende möglichkeit von der nächst ankommenden in frage gestellt wird und weil wir selbst in frage gestellt werden, sobald wir realisieren. Je wahrscheinlicher eine möglichkeit, desto realer. Die 'reale welt' und das 'reale ich' erweisen sich als extrapolationen aus dem wogenden ozean von möglichkeiten, leichen, die aus dem toben der virtualitäten (= möglichkeiten) herausgefischt werden. Schaum
 Zufallsprodukt  Demokrit war bekanntlich der gegenwärtig wieder aktuell werdenden meinung, alles sei ein produkt des zufalls. Mit ‘zufall’ meinte er das zufallen eines teilchens auf das andere. Nach dem urknall (so meinen wir) sind ein elektron und ein proton zusammengefallen, und so ist das wasserstoffatom zufällig entstanden. Und dieses zufällige klümpchen ist seinerseits auf ein anderes gefallen zu einem komplexeren klumpen und........und provisorisch endend mit unserem zentralnervensystem.
Sieht man die sache vom wasserstoffatom aus an, dann ist das zentralnervensystem ein ganz unerwarteter, völlig unglaublicher zufall. Sieht man die sache vom zentralnevensystem aus, hat sich die sache zwar zufällig, aber dennoch notwendigerweise ergeben: Wenn man mit sehr vielen atomen sehr lange würfelt, dann müssen notwendigerweise alle würfe, auch der des zentralnervensystems, fallen.
Florenz
Zu tausenden pilgern sie von denkmal zu denkmal, erstarren ehrfürchtig vor Michelangelos David und Donatellos Judith oder lassen sich vom heiligen schauer ergreifen angesichts der vergoldeten relieftafeln Ghibertis an der paradiestür des baptisteriums. Natürlich hat man die grossen Florentiner kunstwerke schon bereits im reiseprospekt, im fernseher und auf postkarten gesehen, aber es ist halt schon etwas anderes, wenn man selbst davorsteht.
Überwältigend die aura dieser vollendeten schöpfungen, beeindruckend die vorstellung, dass ihnen die meister den letzten grossen schliff gaben. Zwischen betrachter und kunstwerk liegt eine magie, die regelmässig den griff zur kamera provoziert. Wer weiss denn schon, dass die tausendfach geknipsten objekte meist nur raffinierte duplikate sind, während die von der luftverschmutzung halb zerfressenen originale längst in museen und klimatisierten lagerhallen in sicherheit gebracht wurden? So perfekt sollen die immer häufiger im stadtbild erscheinenden kopien mittlerweile sein, dass sie von auge kaum als nachbildungen erkannt werden können. Kommt dazu, dass das dafür verwendete kunstharz gegen luftverschmutzung resistent ist. Bald wird Florenz eine täuschend echte kunstharzkopie seiner selbst sein.
(Peter Pfrunder)
 Absicht wird quantifiziert  Das ist keine erfreuliche weltanschauung: Wenn alles überhaupt mögliche zufällig entstehen muss, dann ist es 'gleichgültig', wertfrei, es gibt keine quantitäten und qualitäten mehr. Und tatsächlich sieht es so vom standpunkt aus, wo alles schon geschehen ist und nichts mehr geschehen kann, dem tod. Aber von 'hier und jetzt' aus gesehen, jenem wellental im meer von möglichkeiten, wo sie konzentriert angezogen werden und das wir 'ich' nennen, sieht es ganz anders aus. Das zentralnevensystem ist (zufällig) so gebaut, dass es den zufall aus notwendigkeit in absicht umdreht. Damit ist der begriff absicht aus dem wertenden kontext (zb 'poetische inspiration') in einen quantifizierbaren kontext (zb 'wahrscheinlichkeitsrechnung') übertragen worden, ohne dabei das geringste an mysterium zu verlieren.
Absicht meint jetzt den ausserordentlich beschleunigten zufall.
Schaum
 Schnellrechner  Und hier kommt die maschine ins spiel: Die evolution ist ein zufallsspiel mit genen. Dieses lässt sich numerisieren, kodifizieren und in den computer füttern. Der rechner kann die derart in ihn gefütterten algorithmen prozessieren und symbolisch die biologische evolution von jahrmilliarden in stunden verkürzen. Es werden ungeahnte möglichkeiten ersichtlich. Und daraus kann man wählen: Dieses lebewesen ist zwar seit beginn des lebens vorprogrammiert, ist aber hier und jetzt 'absichtlich' entstanden.
 Wahrscheinlichkeitsrechnung  Alle begriffe wie 'cyberspace', 'virtueller raum', 'simulierte szene' meinen, dass wir dank neuer technik einer explosion von disziplinierter schöpferkraft entgegenschreiten. Dass wir aus der wahrscheinlichkeitsrechnung alternative räume und zeiten entwerfen werden, die den gleichen grad an realität besitzen werden wie jene der welt, innerhalb der wir gegenwärtig da sind.
 Befreiung  Von einer andern seite aus meinen diese begriffe, dass wir uns aus der tyrannei einer angeblichen realität zu befreien beginnen. Die unterwürfige einstellung, dank deren wir uns als subjekte über und unter eine objektive wirklichkeit beugen, weicht einer neuen einstellung, dank welcher wir in die möglichkeiten in uns und um uns greifen und absichtlich realisieren. Von dieser seite aus gesehen, meint die neue technik, dass wir uns aus der subjektivität in die projektivität aufzurichten beginnen.
 Preis  Den preis, den wir dafür zu bezahlen haben, ist der verlust des festen bodens der sogenannten realität unter den füssen im tausch gegen sich überlagernde und sich häufende möglichkeitsseifenblasen: schaum.
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